Ein Interview mit dem Patientenschützer Kristjan Diehl in: chrismon, August 2023
Haben Sie vor Jahren mal eben eine Standard-Patientenverfügung unterschrieben? So was führt eher zu Streit. Der Patientenschützer Kristjan Diehl weiß, wie es besser geht. Kristjan Diehl ist Berater bei der Deutschen Stiftung Patientenschutz (Kontaktdaten am Ende des Artikels!).
chrismon: Viele Leute sagen: Wenn ich so krank bin, dass ich mich nicht mehr äußern kann, soll meine Familie entscheiden, was medizinisch mit mir gemacht wird, ich schreibe jedenfalls keine Patientenverfügung. Funktioniert das?
Kristjan Diehl: Das führt eher zu Streit. Die ärztliche Seite schlägt eine Behandlung vor, die Angehörigen lehnen sie ab, weil sie sagen: Die kranke Person hätte diese Behandlung nicht gewollt. Aber belegen können sie das dann nicht.
Wissen die Familienmitglieder voneinander, was sie wollen würden in einer gesundheitlichen Krise?
Nein. Wir merken das, wenn Paare zu uns in die Beratung für eine Patientenverfügung kommen und meinen, es gehe ganz schnell, weil sie von sich und vom anderen genau wüssten, was sie wollen und was nicht. Zum Beispiel nicht so leben wie die Nachbarin damals im Wachkoma. Wenn wir dann ins Gespräch kommen, bewerten die Leute konkrete Behandlungen doch ganz anders als vorher gedacht.
Was fragen Sie zum Beispiel?
Was ist für Sie nach einem Unfall eine Einschränkung, mit der zu leben Sie weiter bereit sind, und was ist Sie für ein absolutes No-Go? Dann sagen die Menschen manchmal: eine hohe Querschnittlähmung, also eine Lähmung auf Höhe der Halswirbel oder der Brustwirbel. Und der Partner, der daneben sitzt, sagt: "Aber ich kann dich doch nicht sterben lassen, wenn du mit gelähmten Armen und Beinen weiterleben könntest und zwar bei Verstand!" Dann überlegen manche: "Vielleicht sage ich ja wirklich eine Woche später, nach dem Erwachen aus dem Koma: Ich leb doch lieber querschnittgelähmt, als dass ich tot bin." Diese Auseinandersetzungen gehören in die Gespräche.
Also ist es riskant, eine Patientenverfügung zu haben!
Natürlich birgt eine Patientenverfügung Risiken. Aber die Risiken sind größer, wenn man nichts verfügt. Denn in der Regel sind sich Angehörige und Ärzte nicht gleich einig. Oft sind es selbst Angehörige untereinander nicht. Streit ist vorprogrammiert. Die Behandlung, die dann stattfindet, hat mit dem Willen des Patienten wenig zu tun.
Man muss sich also richtig Zeit nehmen für eine Patientenverfügung.
Aber für die Auswahl von Auto, Handy, Flugreise nehmen sich die Menschen doch auch Zeit! Nur für diese Entscheidungen über Leben und Tod unterschreibt man mal eben einen Vordruck, den sich ein anderer ausgedacht hat. Diese Vordrucke oder Baustein-Patientenverfügungen sind am Krankenbett in aller Regel unbrauchbar.
Wann führen Standardverfügungen zu Streit?
Zum Beispiel nach einem Schlaganfall. Die Menschen sehen ihren Angehörigen auf der Intensivstation, beatmet, an Sonden und Schläuchen, dann sagen sie: Das wollte er nie, hier ist seine Patientenverfügung. Und dann hält sich das ärztliche Personal da nicht dran. Weil die meisten Verfügungen Behandlungen erst ab einem Punkt beschränken, an dem die Menschen schon fast tot sind. Das ist den Leuten nicht bewusst. Die Ärzte und Ärztinnen haben also weiter freie Hand.
Und an diesem Punkt bin ich noch gar nicht, wenn ich mit Schlaganfall auf die Intensivstation komme?
Genau. Die Ärzte nehmen sich nicht die Zeit, den Angehörigen die Situation zu erklären, die Angehörigen verstehen also nichts, es gibt Streit, dann werden sie nicht mehr reingelassen . . . Am ersten Tag nach einem Schlaganfall kann man noch gar nichts über die Zukunft des Betroffenen sagen, aber in zehn Tagen kann das behandelnde Team - vielleicht voraussagen, wie die Zukunft aussieht. Die Patientenverfügung greift also nicht unmittelbar.
In vielen Verfügungen steht auch: Keine lebensverlängernden Maßnahmen, wenn es irreversible Ausfälle im Gehirn gibt . . .
Da bin ich ja schon kurz vor dem Hirntod! Meist wollen die Menschen schon an einem früheren Punkt die Behandlung begrenzen. Und die Ärzte, Ärztinnen in der Neurologie wären auch froh, sie bekämen in der Patientenverfügung klare Aussagen für die ersten Wochen und Monate.
Unterscheiden sich die Menschen überhaupt in ihren Wünschen?
Die Menschen sind so verschieden! Manche haben mir von ihren Nahtoderlebnissen erzählt und sagten: Ich hatte mich schon von oben gesehen, nee, ich möchte nicht noch mal reanimiert werden, lasst mich dann gehen. Und die anderen: Ich hab bereits das Licht gesehen, und trotzdem will ich reanimiert werden. Diese Individualität soll sich ausdrücken können! Die soll nicht in ein Korsett gepresst werden. Es gibt nicht wenige Menschen, die auch für ganz schwere, ausweglose Situationen bestimmen: Ich hab nur dieses eine Leben, ich möchte selbst bei einer schweren Gehirnschädigung, wenn man nicht mehr an mich glaubt, dass ein Jahr lang alles versucht wird.
In vielen Standardformularen steht auch: Im "Endstadium einer schweren Erkrankung" soll das und das nicht mehr gemacht werden. Klingt eigentlich glasklar.
Aber Menschen haben oft mehrere Krankheiten gleichzeitig, man nennt das Multimorbidität. Ich habe gerade einen tragischen Fall begleitet. Die Angehörigen sagen: Unsere Verwandte wurde in der Klinik zugrunde gerichtet. Sie kam mit einer gebrochenen Hüfte ins Krankenhaus. Ein paar Vorerkrankungen hatte sie auch. Dann steckte sie sich bei der Zimmernachbarin mit dem Coronavirus an, die Angehörigen durften nicht mehr rein, dann stellte sich eine Nierenerkrankung heraus, ab und zu war die Patientin verwirrt, die Wunde wegen des Knochenbruchs heilte schlecht, eine enorm belastende Dialyse wurde gemacht wegen der schlechten Nierenwerte, es kam eine gewisse Lebensmüdigkeit hinzu, plötzlich sackten die Blutwerte ab. Jetzt sind wir in einen Bereich, der mit keiner Standardverfügung wirklich abgedeckt ist.
Die Patientin ist in einer Mühle gefangen?
Genau. Eine quälende Behandlung nach der anderen, aber nichts wird gut für die Patientin. Irgendwann ist sie auch nicht mehr klar genug, um einer Behandlung zu widersprechen. Standardverfügungen sind für solche Situationen zu schwarz-weiß.
Was wäre weniger schwarz-weiß?
Man kann abstufen – man kann die Dauer einer Maßnahme begrenzen, aber auch ihre Intensität. Manche entscheiden im Gespräch mit uns: Vorübergehend Intensivstation wegen einer Darmkrebsoperation geht in Ordnung; dauerhaft Intensivbehandlung: Nein. Oder jemand sagt: Ich will nach einem Schlaganfall alle Sofortmaßnahmen haben, und wenn es nach zwei Wochen nur noch um die Therapie und die Reha geht, dann bin ich auch weiter mit der künstlichen Ernährung einverstanden, bis mein Schluckreflex wieder funktioniert. Aber zwei Wochen nach einem Schlaganfall immer noch Intensivstation? Nee, danke! Also schreibt man eine Frist in die Verfügung. Und wenn ein Arzt, eine Ärztin sieht: Diese Person hat sich beraten lassen, Für und Wider abgewogen, auch mal Behandlungsabläufe beschrieben, dann nehmen die eine Verfügung ernst.
Ich kann in einer Patientenverfügung aber auch Behandlungen einfordern.
Ich kann zum Beispiel deutlich sagen, dass ich eine Palliativbehandlung möchte. Und was ich mir für meinen Alltag in Reha oder Pflege wünsche. Zum Beispiel, dass immer ein Fuß unter der Bettdecke rausschauen muss. Oder im Gegenteil: dass die Bettdecke um die Füße geschlagen wird. Brille aufsetzen, Hörgeräte rein! Diese Dinge bedeuten Lebensqualität. Es wäre zum Beispiel gut, die Pflegekräfte könnten nachlesen, welche Lieblingsmusik dem Patienten guttut, wenn er in seiner Demenz unruhig wird. Warum sollen wir am Ende des Lebens immer nur Kamillentee aus der Schnabeltasse bekommen, löffelchenweise Bier oder Rotwein gehn doch auch?
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